Interventionen im dystopischen Raum.

Präambel

Die Erodierung der Stadtkerne ist ein weit verbreitetes Phänomen. In Paderborn sind der Königsplatz und der unterirdische ZOB durch Leerstände gekennzeichnet, Angsträume tun sich auf. Dem begegnet die Stadt mit Umbaumaßnahmen: zeitgemäßere Fassaden, neues Pflaster und Beleuchtung sollen den Ort aufwerten. Demgegenüber stehen die Ruinen einer überholten Vision vergangener Jahrzehnte. Wie können Künstler_innen dieser Situation begegnen? Wie soll man überhaupt darauf reagieren?
Der Leerstand ist ein Möglichkeitsraum. Die Ruine eine Chance für künstlerische Intervention, eine Stelle, die Fragen aufwirft, uns auffordert zu reagieren. Perspektive: Abriss. ist gedacht als Kollaboration unterschiedlicher Akteure, welche gemeinsam einen Ort durch dekadente Handlungen überführen - die kurz bevorstehende Zerstörung immer mitgedacht.

Projekt-Zeitung zur Perspektive: Abriss. herausgekommen


Das Projekt Perspektive: Abriss. wurde im Frühjahr 2015 in eine neue Form überführt: Die Zeitung ist eine Ansammlung von Katalogbeiträgen, Glossareinträgen, historischen Zeitungsartikeln, Zitaten, Fotos, Gedanken, Emotionen und Fragen verschiedenen Autor_innen, die teilweise aus diesem Blog entnommen sind oder nachträglich hinzugefügt wurden. Diese Artikel sind mit einer Verweisstruktur über eine Nummerierung (001 - 160) untereinander verbunden. Die Nummerierung wurde nachträglich auch auf den Blog angewendet, um ein paralleles Lesen zu ermöglichen.

Die Zeitung kann zu einem frei wählbaren Preis erworben werden, wobei bei gewünschtem Versand 2 EUR die Unkosten für Versand und Porto decken. (PayPal nimmt einen Wunschbetrag von 1 EUR an. Bitte ändern Sie die Bestellmenge um auf die gewünschte Summe zu kommen - es wird nur eine Zeitung versendet! Sollten Sie mehrere Exemplare benötigen oder andere Fragen haben, schreiben sie bitte an interventionen@hotmail.com)



Die Zeitung wurde durch die großzügige Unterstützung des Paderborn überzeugt. e.V. ermöglich.

Stadt / Montage

In seinem Roman „Berlin Alexanderplatz“ montierte Alfred Döblin unterschiedlichste Texte, von
Anzeigen, Nachrichten, Werbetexten, Praxisschildern über Artikel aus Sachbüchern, Schlagertexten und Liedern bis hin zur Literatur. Dennoch unterscheidet sich diese Montage erheblich vom simplen Einfügen von Texten, um dadurch die Authentizität oder Veranschaulichung des Erzählten
zu erhöhen, sondern Döblin baut seinen Roman aus den Versatzstücken, aus denen auch die Stadt Berlin aufgebaut ist. Ihm gelingt durch die Montage die Poetisierung dieser Großstadt.
Welche Versatzstücke brauchen wir, um eine Poesie zu verfassen, die der Innenstadt Paderborns, den Königsplätzen, dem HOT gerecht wird? Was macht es mit einem Text (einem Kunstwerk) wenn die Architektur, auf die Bezug genommen wird, im Wandel ist oder sogar verschwindet?

Anmaßung eines Architekten V - Meterriss: Sich in eine fiktive Situation zurückträumen

Anmaßung V Meterriss
 Ein Meterriss ist eine der wichtigsten Markierungen auf einer Baustelle und deshalb zentraler Bestandteil unserer heutigen Architektur. Ein Meterriss markiert eine Referenzhöhe im Rohbauzustand eines Gebäudes, an der sich alle Handwerker im Laufe der Bauphase orientieren. Für eine Meterriss-Markierung wird üblicherweise eine ca. 3 x 5cm große Kunststoff-Plakette in jedem Geschoss auf eine Höhe von exakt 1,00m über der Oberkante des späteren Fertigfußbodens montiert. Von dieser Markierung aus werden zum Beispiel die Aufbauhöhen für den Bodenbelag, die Türzargenhöhen oder auch die Montagehöhen für WCs, Waschbecken, usw. bestimmt.

Für diese künstlerische Arbeit hat Carsten Schade im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit als bauleitender Architekt insgesamt vier Meterrisse von einer aktuellen Großbaustelle mitgenommen und ihnen einen neuen Bestimmungsort im Abbruchhaus  in der Marienstraße 24 in Paderborn gegeben. Dort wurde auf jeder Etage im Treppenhausbereich je ein Meterriss in Zusammenarbeit mit any collective fachgerecht montiert.

Die Meterrisse ermöglichen dem Abbruchunternehmer alle Wände auf einem Geschoss  exakt bis zu einer Höhe von 1,00m über Oberkante Fertigfußboden (ü. OKFFB) abzubrechen. Diese Höhe entspricht genau der Schnitthöhe eines Grundrisses: Einen Grundriss kann man sich vorstellen wie einen horizontalen Schnitt durch ein Gebäude auf 1,00m Geschosshöhe. In Gedanken nimmt man den Rest des Gebäudes darüber weg und schaut sich das gewünschte Geschoss von oben an.

Ein geschossweiser Abbruch, der sich an den Meterrissen im Gebäude orientiert, legt nach und nach die Grundrisse der einzelnen Etagen wieder frei. Das Freilegen ermöglicht einen Über-Blick über das Gebäude und kann wie ein wiederholtes Nachzeichnen des Gebäudegrundrisses betrachtet werden. Es ist eine Sichtweise, die Michel de Certeau in seinem Buch „Kunst des Handelns“ als den strategischen Blick oder auch als den Blick des Planers beschreibt. Der oben beschriebene Meterriss-Abriss als schichtweises Freilegen und Betrachten der aktuellen Grundrisses spannt also wieder den Bogen zu den ersten planerischen Überlegungen des Entwurfsverfassers der Marienstraße 24 in den 1960er Jahren: Es ist ein Bogen, der die ersten Grundrissskizzen im Maßstab 1:200 zwischen Architekten und Bauherrn umfasst, aber auch die späteren Bauantragsgrundrisse im Maßstab 1:100 und darauf folgende Ausführungsgrundrisse im Maßstab 1:50 bis hin zum bestehenden Grundriss im Maßstab 1:1.

Der Meterriss-Abriss kann auch verstanden werden als eine Live-Bestandsaufnahme des Gebäudes. Eine Bestandsaufnahme meint das Festhalten der tatsächlichen Maße eines bestehenden Gebäudes. Das wird beispielsweise durchgeführt zur Planung von Umbaumaßnahmen. Unsere Live-Bestandsaufnahme mit dem Abrissbagger hat allerdings gegenüber der üblichen Bestandsaufnahme den Vorteil, dass (anmaßende) architektonische Veränderungen wie beispielsweise der zusätzliche Einbau von Lichtkuppeln direkt erfolgen könnte ohne die sonst erforderlichen Rücksprachen mit den Fachplanern wie Statiker, Haustechniker, Brandschutz- oder Wärmeschutz-Sachverständigen, usw. heranziehen zu müssen.

Ungeklärt bleibt, ob die Anmaßung des Architekten nun darin besteht, spielerisch mit dem Bestandsgebäude umzugehen oder vielmehr in dem Abriss und Neubau des Gebäudes.

Wie dem auch sei: Mit jedem abgerissenen Geschoss entlang der Meterrisse kann ein weiterer Grundrissplan feierlich aus dem Bauarchiv der Stadt Paderborn in das Stadtarchiv hinübergetragen werden. Und dort steht es dann Allen offen, sich anhand der Grundrisse zurück zu träumen in die Situation, wie es wohl gewesen war, als der Meterriss-Abriss Etage für Etage realisiert gewesen worden wär.

Anmaßung V Meterriss

WIR BAUEN EINE STADT.

Wem gehört die Stadt? Diesem Thema widmen sich die beiden Dokumentationen der Fernsehsender ARD und Arte. In diesen betrachten sie den aktuellen privaten, wie auch öffentlichen Immobilien Markt.
 

Intime Fremdheit

25.08.2014

 Statt Glitzerfolie ziert nun eine Beton-Girlande die nicht mehr vorhandene Terrasse, auf der man sich zu manch künstlerischen Pausen lauschig zusammenfand. So nah und doch so fern schaue ich jetzt auf ein Gebäude, welches bald dem Erdboden gleicht.

So nah, weil ich mich zwei Wochen dort drinnen aufhalten durfte! Man könnte meinen, in einem entkernten Hauskomplex gäbe es nichts mehr zu finden. Das große Gegenteil haben wir –ich denke im Sinne aller TeilnehmerInnen- erfahren.

So fern, weil ich nicht weiß, was als nächstes passiert. Nahezu willkürlich und animalisch scheint die Baggerschnauze hinein zu beißen, gleichwie in einen enorm opulenten Kuchen, das schmackhafte Stück aus der Mitte zuerst!

Während ich auf einmal ganz anonym beobachtend hinter dem Bauzaun stehe und aus der Entfernung in ehemalige Wohnräume blicke.
Intime Fremdheit fühlend. Abriss: omnipräsent.

Wenn das eine aufhört, beginnt das andere...

9.8.2014: Filis Merit und Tim Pickartz beim Blick auf das Anwesenheitsprotokoll.





12.8.2014: Nach einer zweiwöchigen Pause wird nun wieder mit dem Entkernen des Gebäudes begonnen.


Ausstellungstipp: We traders, Kunstraum Kreuzberg/Bethanien

Ausstellung nur noch bis Sonntag 17. August 2014
"Tausche Bürokratie gegen Eigeninitiative, tausche Wegwerfen gegen Wiederverwenden, tausche Investorenruine gegen Experimentierfeld: „We-Traders. Tausche Krise gegen Stadt“ macht vom 4. Juli bis zum 17. August Station im Berliner Kunstraum Kreuzberg/Bethanien. In der „arbeitenden Ausstellung“ des Goethe-Instituts und der Kuratorinnen Angelika Fitz und Rose Epple teilen Aktivisten, Architekten, Künstler und Planer aus Madrid, Turin, Lissabon, Toulouse und Berlin ihre Expertise und diskutieren über neue Ideen für eine bessere, gerechtere, lebenswertere Stadt." 
Kunstraum Kreuzberg/ Bethanien