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Anmaßung V Meterriss |
Ein Meterriss ist eine der wichtigsten Markierungen auf einer Baustelle und deshalb zentraler Bestandteil unserer heutigen Architektur. Ein Meterriss markiert eine Referenzhöhe im Rohbauzustand eines Gebäudes, an der sich alle Handwerker im Laufe der Bauphase orientieren. Für eine Meterriss-Markierung wird üblicherweise eine ca. 3 x 5cm große Kunststoff-Plakette in jedem Geschoss auf eine Höhe von exakt 1,00m über der Oberkante des späteren Fertigfußbodens montiert. Von dieser Markierung aus werden zum Beispiel die Aufbauhöhen für den Bodenbelag, die Türzargenhöhen oder auch die Montagehöhen für WCs, Waschbecken, usw. bestimmt.
Für diese künstlerische Arbeit hat Carsten Schade im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit als bauleitender Architekt insgesamt vier Meterrisse von einer aktuellen Großbaustelle mitgenommen und ihnen einen neuen Bestimmungsort im Abbruchhaus in der Marienstraße 24 in Paderborn gegeben. Dort wurde auf jeder Etage im Treppenhausbereich je ein Meterriss in Zusammenarbeit mit any collective fachgerecht montiert.
Die Meterrisse ermöglichen dem Abbruchunternehmer alle Wände auf einem Geschoss exakt bis zu einer Höhe von 1,00m über Oberkante Fertigfußboden (ü. OKFFB) abzubrechen. Diese Höhe entspricht genau der Schnitthöhe eines Grundrisses: Einen Grundriss kann man sich vorstellen wie einen horizontalen Schnitt durch ein Gebäude auf 1,00m Geschosshöhe. In Gedanken nimmt man den Rest des Gebäudes darüber weg und schaut sich das gewünschte Geschoss von oben an.
Ein geschossweiser Abbruch, der sich an den Meterrissen im Gebäude orientiert, legt nach und nach die Grundrisse der einzelnen Etagen wieder frei. Das Freilegen ermöglicht einen Über-Blick über das Gebäude und kann wie ein wiederholtes Nachzeichnen des Gebäudegrundrisses betrachtet werden. Es ist eine Sichtweise, die Michel de Certeau in seinem Buch „Kunst des Handelns“ als den strategischen Blick oder auch als den Blick des Planers beschreibt. Der oben beschriebene Meterriss-Abriss als schichtweises Freilegen und Betrachten der aktuellen Grundrisses spannt also wieder den Bogen zu den ersten planerischen Überlegungen des Entwurfsverfassers der Marienstraße 24 in den 1960er Jahren: Es ist ein Bogen, der die ersten Grundrissskizzen im Maßstab 1:200 zwischen Architekten und Bauherrn umfasst, aber auch die späteren Bauantragsgrundrisse im Maßstab 1:100 und darauf folgende Ausführungsgrundrisse im Maßstab 1:50 bis hin zum bestehenden Grundriss im Maßstab 1:1.
Der Meterriss-Abriss kann auch verstanden werden als eine Live-Bestandsaufnahme des Gebäudes. Eine Bestandsaufnahme meint das Festhalten der tatsächlichen Maße eines bestehenden Gebäudes. Das wird beispielsweise durchgeführt zur Planung von Umbaumaßnahmen. Unsere Live-Bestandsaufnahme mit dem Abrissbagger hat allerdings gegenüber der üblichen Bestandsaufnahme den Vorteil, dass (anmaßende) architektonische Veränderungen wie beispielsweise der zusätzliche Einbau von Lichtkuppeln direkt erfolgen könnte ohne die sonst erforderlichen Rücksprachen mit den Fachplanern wie Statiker, Haustechniker, Brandschutz- oder Wärmeschutz-Sachverständigen, usw. heranziehen zu müssen.
Ungeklärt bleibt, ob die Anmaßung des Architekten nun darin besteht, spielerisch mit dem Bestandsgebäude umzugehen oder vielmehr in dem Abriss und Neubau des Gebäudes.
Wie dem auch sei: Mit jedem abgerissenen Geschoss entlang der Meterrisse kann ein weiterer Grundrissplan feierlich aus dem Bauarchiv der Stadt Paderborn in das Stadtarchiv hinübergetragen werden. Und dort steht es dann Allen offen, sich anhand der Grundrisse zurück zu träumen in die Situation, wie es wohl gewesen war, als der Meterriss-Abriss Etage für Etage realisiert gewesen worden wär.
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Anmaßung V Meterriss |